Hochsensibilität bei Kindern und Jugendlichen
Hochsensitivität bzw. Hochsensibilität ist keine psychische Störung oder Krankheit, sondern eine vererbte Persönlichkeitseigenschaft, die bei ca. 20 – 30% der Bevölkerung auftritt. Damit ist vor allem die Fähigkeit gemeint, Sinnesreize besonders stark wahrzunehmen. Oft wird statt von hochsensiblen lieber von hochsensitiven Persönlichkeiten gesprochen, da dieser Begriff, auch wenn er weniger verbreitet ist, deutlich positiver klingt.
Was bedeutet es nun genau, wenn ein Kind hochsensibel ist?
Hochsensible Kinder nehmen über alle fünf Sinne deutlich mehr und intensiver wahr. Sie sehen, riechen, hören, schmecken und fühlen intensiver als nicht hochsensible Kinder. Zudem ist auch die Gefühlswelt in der Regel stärker ausgeprägt. Das Nervensystem reagiert sehr empfindlich und nimmt selbst kleinste Reize und Informationen auf. Das kommt daher, dass hochsensible Menschen über mehr Neurotransmitter verfügen als andere. Neurotransmitter sind Botenstoffe im Gehirn, die die Informationen von Nervenzellen an andere Zellen übertragen. Das Nervensystem der meisten Menschen besitzt einen Filter, der wichtige von unwichtigen Informationen trennt. Diesen Filter scheint es bei Hochsensiblen so nicht zu geben, weshalb man sie auch als „Vielfühler“ bezeichnen kann. Sie denken viel nach und spüren auf der Gefühlsebene alles viel intensiver.
Typische Merkmale hochsensibler Kinder und Beispiele für Reizüberflutungen im Alltag
Sehen
Registrieren kleinster visueller Impulse und Veränderungen
Grelle Farben werden oft als unangenehm empfunden
Lichtempfindlich
Hören
Meiden von Lärm
Hintergrundgeräusche werden als unangenehm oder störend empfunden
Feines und frühes Gespür für Rhythmik und Musik
Riechen
Feiner Geruchssinn
Parfum wird oft als unangenehm empfunden
Starke Beeinträchtigung durch intensive Gerüche (z.B. Reinigungsmittel)
Schmecken
Ekel / Würgen vor bestimmten Nahrungsmitteln / Konsistenzen
Nahrungsmittel sollen bevorzugt getrennt angeboten werden
Vermeiden von stark gewürzten Nahrungsmitteln
Fühlen
Kratzige oder enge Kleidung wird abgelehnt
Etiketten in der Kleidung werden als störend empfunden
Schmerz-, kälte- und wärmeempfindlich
Gefühlswelt
Gefühle können schon früh benannt werden
Fantasievoll
Sprachgewandt
Stimmungen anderer werden schnell erkannt und übernommen
Empathisch und einfühlsam
Empfindlich hinsichtlich Drohungen, Strafen und Schimpfen
Leicht zu begeistern und euphorisch
Weint schneller als andere Kinder
Besonders impulsiv oder aggressiv, bekommt schnell Wutausbrüche
Wenige, dafür aber sehr tiefe Freundschaften
Die Trennung von Bezugspersonen wie auch das Einlassen auf neue oder veränderte Situationen fallen schwer
Das kann gerade ein Kinderhirn schneller überfordern und sich zum Beispiel in extremen Stimmungsumschwüngen bemerkbar machen. Neben aggressivem Verhalten sind auch inneres Abschalten und Zurückziehen typische Verhaltensweisen. Für das Umfeld sind derart plötzliche und heftige Reaktionen häufig schwer zu verstehen und nachzuvollziehen.
Weitere Beispiele möglicher Reaktionen bei Reizüberflutung
Tobsuchtsanfälle oder Wutausbrüche
Versuch durch Gehorsam / keinen Ärger machen unbemerkt zu bleiben
Rückzug in Fantasie oder virtuelle Welten
Perfektionismus und Streben nach herausragenden Leistungen
Bauch- und/oder Kopfschmerzen
Ängstlichkeit und/oder Hoffnungslosigkeit
Auf der anderen Seite sind hochsensible Kinder auch tiefgründig und denken viel über die Welt nach. Ungerechtigkeiten sind für sie nur schwer aushaltbar, sie verfügen oft über ein sehr gutes Einfühlungsvermögen und haben daher häufig eine sehr mitfühlende, empathische Art.
Was sind gefühlsstarke Kinder?
Der Begriff wurde in den letzten Jahren von der Journalistin Nora Imlau geprägt, die die Bücher „So viel Freude, so viel Wut“ und „Du bist anders, du bist gut“ herausgebracht hat. Die Autorin erwähnt den Begriff der Hochsensitivität zwar nicht, beschreibt gefühlsstarke Kinder aber als meist sehr sensibel. Die Psychotherapeutin Elisabeth Heller erlebt in ihrer therapeutischen Praxis, dass hochsensitive Kinder meistens dann „gefühlsstark“ reagieren, wenn sie überreizt sind und noch nicht gelernt haben, mit ihren starken Emotionen umzugehen.
Gefühlsstarke Kinder zeichnen sich durch bestimmte Temperamentsmerkmale aus. Sie sind sehr aktiv, stark in ihren Emotionen und Ausdrucksweisen und haben oft Probleme bei der Selbstregulation. Oft lassen sie sich schnell ablenken und es fällt ihnen schwer, sich an ein wechselndes Umfeld anzupassen. Je ausgeprägter diese Eigenschaften sind, desto schwieriger ist der Umgang mit diesen Kindern. Es ist daher wichtig, dass das Kind lernt, seine Gefühle zu regulieren und ihnen auf angemessene Art und Weise Ausdruck zu verleihen.
Wie kann nun mit hochsensiblen Kindern bestmöglich umgegangen werden?
Vor allem bei hochsensiblen Babys und Kleinkindern können Eltern und andere Bezugspersonen das Wohlgefühl und die Weiterentwicklung steigern. Aber auch während Kindergarten, Schule und Pubertät kommen die verschiedenen Faktoren zum Tragen. Vier wesentliche Punkte können Wutausbrüchen, Stress und weiteren negativen Auswirkungen vorbeugen.
1. Reizschutz
Das Umfeld des Kindes sollte möglichst reizarm gestaltet werden. Je jünger das Kind, desto wichtiger ist dieser Punkt. Konkret bedeutet das
Geräuscharm
Warmes Licht und sanfte Farben
Spielzeug in Maßen
Schlichte Raumgestaltung
Konstante Bezugspersonen
Vermeiden spontaner Veränderungen / Ortswechsel (soweit möglich)
Besuche / Freizeitaktivitäten in Maßen
2. Rituale
Der Alltag sollte geprägt sein von wiederkehrenden Ritualen und vorhersehbaren Abläufen. Feste Strukturen geben den Kindern Halt und Sicherheit, sie helfen dabei, eine für sie chaotische Welt zu ordnen.
Regelmäßige Aufsteh- und Zubettgehzeiten
Morgen- und Abendroutinen
Feste Essens-, Spiel- und Schlafzeiten
Gleichbleibende Spazierrouten
Gleichbleibende Wege zu bekannten Orten (z.B. Spielgruppe, Kita, Freund, Schule)
Zeit lassen und Unterstützung anbieten, wenn das Kind selbstständig Sachen machen möchte
Zeit und Raum für Ruhepausen
Rückzugsmöglichkeiten schaffen
3. Ruhe und Entspannung
Der erste Punkt sorgt für Ruhe vor äußerlichen Einflüssen. Nun geht es auch um die innere Ruhe. Das Kind soll sich scher und geborgen fühlen. Auch körperliche Nähe zu Eltern und anderen Bezugspersonen spielt eine wichtige Rolle, um dem Kind das Gefühl zu vermitteln, dass es sich entspannen und mitteilen kann, welche Ängste und Sorgen es gerade beschäftigen. Hochsensible Kinder brauchen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen durch ihre Bezugspersonen.
4. Reflexion
Gerade, weil hochsensible Kinder so feinfühlig sind, übertragen sich Stimmungen schnell auf die Kinder. Das eigene Verhalten kann somit Auslöser für eine Überreizung des Kindes sein. Es ist daher wichtig, auch die eigenen Bedürfnisse im Blick zu behalten und seinen Gemütszustand regelmäßig abzufragen. Ist man selbst übermüdet, erschöpft, genervt, gereizt oder nervös, wird diese Stimmung häufig von einem hochsensiblen Kind übernommen.
Hilfe für Eltern hochsensibler Kinder
Man sollte deswegen keine Scheu haben, sich Hilfe zu suchen, wenn man sich überfordert fühlt –sei es familiäre oder professionelle Hilfe. Für viele Eltern ist der Kinderarzt oder die Kinderärztin die erste Anlaufstelle. Trotz der wissenschaftlichen Untersuchung von Hochsensibilität, gibt es bis heute kein anerkanntes Diagnoseverfahren für Hochsensibilität. Deswegen wird bei Kindern mit hoher Reizempfindlichkeit häufig erst nach psychischen oder körperlichen Ursachen gesucht. Hochsensibilität ist aber weder eine Krankheit noch eine psychische Störung, sondern die Folge eines sehr reizempfindlichen Nervensystems. Ein Austausch mit anderen betroffenen Eltern kann daher hilfreich sein. Kinderärzte sowie Jugend- und Familienberatungen können hilfreiche erste Ansprechpartner sein.
Eine Liste aller Kinderärzte finden Sie hier
Quellen:
https://starkekids.com/hochsensible-kinder/
Stand: Juli 2024, Familienapp Kaufbeuren-Ostallgäu